Warum überhaupt eine Spezialpraxis für Schmerz- und Palliativpatienten?
Achtung, dieses Kapitel ist lang und im Prinzip vollkommen internetungeeignet! Kurze, klare Informationen finden Sie deshalb unter all unseren anderen Menüpunkten.
Wenn Sie sich jedoch für die Beweggründe interessieren, die zur Gründung unserer Gemeinschaftspraxis geführt haben – oder wenn Sie wissen wollen, was sich Praxisgründerin Dr. Bettina Claßen so denkt oder was sie eigentlich tut, wenn sie nicht in der Praxis ist – dann schütten Sie sich doch einfach eine Tasse Kaffee ein und lesen Sie weiter:
Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich als 16-jährige Pflegedienst-Helferin in einem Seniorenheim. Eine sehr alte Patientin lag – gut gepflegt in pieksauberer, weißer Bettwäsche – mit Rasselatmung in ihrem Bett. Mir wurde beiläufig mitgeteilt, sie werde sterben, dann war die diensthabende Schwester auch schon wieder verschwunden. Ich trat ins Zimmer und hatte sofort das Gefühl, dass hier etwas grundfalsch lief. Sie war exzellent versorgt, sorgfältig gewaschen und eingecremt. Es brannte eine Kerze, es war still – aber niemand war bei ihr und es kam auch keiner – kein Angehöriger, kein Arzt, niemand. Es schien mir sogar so, dass die Schwestern diesen Teil der Station an diesem Morgen ein wenig mieden.
In meiner Naivität war ich davon ausgegangen, dass sich alle um einen sterbenden Menschen versammeln würden, wenn es soweit war. Der Kontakt mit der Realität schockierte mich, ich vergrub das beklemmende Bild in meinen Erinnerungen, vergaß es aber nicht…
In den Jahren danach war ich damit beschäftigt, zu lernen, wie man Narkosen macht und wurde am Ende meiner Facharztausbildung in die interdisziplinäre Schmerzambulanz der Universitätsklinik Essen versetzt, wo die leitende Ärztin mit viel Engagement einen gut funktionierenden schmerztherapeutischen Konsiliardienst für alle, die unter langanhaltenden Schmerzen litten, aufgebaut hatte. Ich kam völlig unvorbereitet aus einem sehr technikorientierten Fachgebiet in diese Ambulanz und machte mit meiner Vorstellung, dass Schmerz ein vorwiegend körperliches Phänomen ist, erstmal eine gewaltige Bauchlandung. Meine Patienten brachten mir sehr schnell bei, dass Schmerz eine Menge mit Kummer, Sorgen und handfesten sozialen Problemen zu tun hat und dass der alte Hausarztsatz: „Was fehlt Ihnen denn?“ mehr Tiefgang hat, als mir als Anfängerin damals klar war.
Ich schrieb mich also ganz schnell in einen Psychosomatik-Kurs ein und vertiefte mein Wissen über das Zusammenspiel von Körper und Seele später mit dem Erwerb einer psychotherapeutischen Zusatzbezeichnung.
Nach Abschluss meiner anästhesiologischen Ausbildung ließ ich mich in Bochum-Wattenscheid in einem Zentrum für ambulante Narkosen nieder und bekam die Gelegenheit, dort ebenfalls eine Schmerzambulanz aufzubauen. Die Ambulanz wuchs rasch, ich wurde mit meinen Patienten älter und die ersten, die mich anfangs noch gut in der Sprechstunde aufsuchen konnte, zogen um ins Seniorenheim. Und dann kam der Tag, der der eigentliche Anlass für die Gründung dieser Gemeinschaftspraxis war.
Mir war aufgefallen, dass eine Reihe von Patienten zwar noch Rezepte für ihre Tabletten bestellten, aber schon lange nicht mehr in meiner Sprechstunde erschienen. Daher hatte ich meine Mitarbeiterinnen gebeten, diese Patienten zur Kontrolle ihrer Medikation und ihrer Erkrankungen einzubestellen. Das führte an diesem Nachmittag zu einem heftigen Tumult in meinem Wartezimmer. Der Lärm wurde ausgelöst durch eine demente Patientin, die in einem voluminösen Funktionsrollstuhl jedem den Durchgang versperrte und – offensichtlich verängstigt und gestresst durch die fremde Umgebung – ihrer Panik lautstark Luft machte. Neben ihr stand – hilflos und eher unbeteiligt – der Zivildienstleistende, der sie begleitete. Nachdem ich die beiden in mein Zimmer bugsiert hatte – was wegen des Riesenrollstuhles wirklich schwierig war – stellte ich fest, dass mir die Patientin keine Auskunft über ihren Zustand geben konnte und der Zivildienstleistende sie gar nicht kannte, aber der einzige Mitarbeiter war, den das Heim an diesem Morgen für den Transport hatte entbehren können. Die ganze Aktion war also trotz des enormen Aufwandes völlig für die Katz und mir wurde schlagartig klar, dass ich meine älteren Patienten künftig besuchen und mit den Menschen persönlich sprechen musste, die sie pflegten.
Ich bekam kurz darauf das Angebot, neben dem Augusta Krankenhaus in Bochum eine funkelnagelneue Praxis für spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin einzurichten und auch den Grundriss und die technische Ausstattung komplett selber zu gestalten. Das führte zu einer erheblichen Investition in Computer und Telefonanlage – und zur Einstellung von ziemlich viel Praxispersonal, denn das Pflegepersonal in den Altenpflegeeinrichtungen ist auf die Übermittlung schriftlicher, zeitnaher, korrekter Medikamentenpläne angewiesen, um ihre Patienten korrekt versorgen zu können.
Kontakt zur Palliativmedizin bekam ich zu einem für mich persönlich sehr ungünstigen Zeitpunkt. Ich war gerade frisch verwitwet, meine jüngsten Kinder waren gerade einmal vier Jahre alt, als mich mein früherer Oberarzt Thomas Storck bat, ihn bei seiner Arbeit im Hospiz in Essen zu unterstützen, das er alleine 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, betreute. Gegen jede rationale Vernunft sagte ich zu und bekam in den folgenden Jahren zum Dank von meinem Kollegen und dem Pflegeteam des Hospizes eine bodenständige, palliativmedizinische Ausbildung, für die ich heute noch sehr dankbar bin.
So gerüstet, mit einer Praxis mit tragfähiger Infrastruktur im Rücken, machte ich mich daran, meinen Plan, meine Patienten zu besuchen, in die Tat umzusetzen.
Über einen Kontakt zu der sehr engagierten Leiterin des St. Anna-Stiftes in Bochum, Frau Christine Bischoff und zur Heimleiterkonferenz der katholischen Heime in Bochum entstand das Projekt WIR GEHEN MIT! Wir richteten einen schmerztherapeutischen und palliativmedizinischen Visitendienst für die sechs katholischen Seniorenheime ein – und parallel bekam ich Gelegenheit, mich in diesen Heimen in der Palliative-Care-Ausbildung des Pflegepersonales mit zu engagieren, die damals von Frau Dr. Angela Loeser frisch konzipiert worden war. Ich hatte also die Chance, mit den gleichen Schwestern und Pflegern sowohl im Klassenzimmer, als auch am Krankenbett zusammen zu arbeiten.
Es stellte sich heraus, dass der Wunsch der Pflegenden, Medikamente und Leitlinien an die Hand zu bekommen, um die Leiden ihrer schmerzgeplagten und sterbenden Bewohner, die sie ja zum Teil seit vielen Jahren kannten, zu lindern, enorm hoch war – genauso wie der Wunsch, mit einem Arzt regelmäßig über die leidvollen Symptome ihrer Bewohner zu sprechen. Im Ergebnis wuchs die Anzahl der Patienten, die ich in den Seniorenheimen zu betreuen hatte rasch an und aus ursprünglich sechs Heimen wurden über 30. Um diese Arbeit langfristig zu etablieren, braucht es Fortbildung auf allen Ebenen, daher engagiere ich mich weiter in der Palliative-Care-Ausbildung der Altenpfleger und -pflegerinnen und setze mich ein für die Vergabe von Palliative-Care-Stipendien an engagierte Pflegekräfte, weil jede ausgebildete Palliative-Care-Fachkraft in ihrem Umfeld ein Multiplikator ist, der weitere Kollegen schult und mitreißt.
Die Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste und der Seniorenheime haben meinen tiefempfundenen Respekt. Die Anforderungen, denen sie körperlich und seelisch jeden Tag ausgesetzt sind, sind unmenschlich hoch. Ich war als junge Frau mehrere Jahre lang in der Pflege tätig und ich habe in meinem Leben nie wieder so hart gearbeitet. Trotz dieser viel zu hohen Belastung sind sie es ganz wesentlich, die durch ihr persönliches Engagement für ihre Bewohner das Sterben in Bochum verändert haben.
Natürlich – und Gott sei Dank – war ich nicht allein mit meinen Überlegungen zur Versorgung schmerzgeplagter und sterbender Patienten. In Bochum wuchs seit Jahren ein wirklich lebendiges Palliativnetz heran und auf Landesebene gründete sich einige Jahre später der Berufsverband für ambulant tätige Palliativmediziner in Westfalen-Lippe, dessen Verhandlungen mit den Krankenkassen über einen Vertrag zur Versorgung von Sterbenden in ihrer selbstgewählten Umgebung die wirtschaftliche Grundlage für die Ausweitung der palliativen Versorgung bis in die Zimmer der alten, kontrakten und dementen Menschen ermöglichte, die sich nicht mehr selber äußern können und die auch keine Gelegenheit mehr haben, selbstbestimmt ihren Arzt aufzusuchen.
Ich wurde eingeladen von unserem viel zu früh verstorbenen Kollegen Dr. Jürgen Thomas, im Vorstand des Hospizvereins Wattenscheid und später am Aufbau des Palliativmedizinischen Konsiliardienstes Bochum mitzuarbeiten und kam dadurch in Kontakt mit diesem bunten Netzwerk von sechs weiteren, wunderbaren Palliativärzten, Pflegediensten, Ehrenamtlichen, Apothekern, Trauerbegleitern, und, und, und – kurz, mit einer Gruppe von ungewöhnlich engagierten Menschen, die sich in den letzten Jahren ganz ähnliche Gedanken über die Versorgung von schmerzgeplagten und sterbenden Menschen gemacht hatten.
Die Zusammenarbeit mit den Bochumer Hausärzten intensivierte sich, unter anderem deshalb, weil von den ursprünglich sieben Palliativärzten vier sehr engagierte Hausärzte waren (Dr. Birgitta Behringer, Klaus Blum, Dr. Klaus Egen, Mathias Heer) – und die Bochumer Fakultät für Allgemeinmedizin lud uns ein, uns an der palliativmedizinischen Ausbildung der Bochumer Medizinstudenten mit Vorlesungen und Seminaren als Lehrbeauftragte zu beteiligen. Das Lukas-Hospiz in Herne stellte uns Räume zur Verfügung und es begann eine praxisnahe und fruchtbare Lehrtätigkeit – zusammen mit Dr. Axel Münker aus dem Marienhospital in Herne und der Leiterin des Lukas-Hospizes, Frau Anneli Wallbaum.
Parallel begann ich, nach dem Erwerb der Weiterbildungsermächtigung in den Fächern Palliativmedizin und spezielle Schmerztherapie, junge Kollegen in diesen Fächern auszubilden. Das geschah nicht ganz uneigennützig. Ich brauchte dringend Verstärkung. Der Ansturm von Patienten war für mich so nicht mehr alleine zu bewältigen – es gestaltete sich aber über mehrere Jahre aus unterschiedlichen Gründen sehr schwierig, eine geeignete Kollegin oder einen Kollegen als Praxispartner zu gewinnen.
Daher bin ich sehr glücklich darüber, dass sich Frau Dr. Sabine Trenke nach ihrer mehrjährigen Weiterbildungszeit als speziellen Schmerztherapeutin und Palliativmedizinerin noch immer nicht von uns trennen mochte, sondern sich mit einem zweiten Kassenarztsitz in meinen – jetzt unseren – Räumen im Gesundheitszentrum neben dem Augusta Krankenhaus niedergelassen hat. Das gibt uns endlich die Gelegenheit, die Wartezeit auf einen schmerztherapeutischen Behandlungsplatz von über 12 Monaten sinnvoll zu verkürzen – und auch ihre fachkompetente, einfühlsame Mitarbeit bei der Versorgung von chronischen Schmerzpatienten und Sterbenden zuhause und in den Seniorenheimen ist eine Riesenentlastung.
Ich hoffe, dieser Einblick in die Entwicklung unserer Arbeit war für Sie interessant.
Ich begrüße Sie herzlich in unserer Praxis und hoffe, dass wir Ihnen und Ihren Zugehörigen gerecht werden können.
Ihre
Dr. Bettina Claßen